Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl

Am 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk von Tschernobyl zum bisher schwersten Unfall in der Geschichte der Kernenergie. Zwei Explosionen zerstörten einen der vier Reaktorblöcke und schleuderten radioaktives Material in die Atmosphäre, das weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine verseuchte. Die radioaktive Wolke zog bis nach Mitteleuropa und zum Nordkap.

Tschernobyl war eine Reaktorkatastrophe mit bis heute immer noch unabsehbaren Folgen für Mensch und Umwelt. Sie hat gelehrt, dass technogene Katastrophen keine nationalen Grenzen kennen.

Zeitzeug*innen, Betroffene und Liquidator*innen der Katastrophen halten die Erinnerung wach. Denn nicht so bekannt wie die Bilder des zerstörten Reaktors sind die Schicksale der Menschen, die bis heute an den Folgen der Katastrophe leiden. Besonders die Erinnerung an ihren Einsatz am brennenden Reaktor von Tschernobyl in den Tagen nach dem 26. April 1986 ist für sie nicht einfach zu verarbeiten. Einige Lebenserinnerungen von Zeitzeug*innen stehen online zur Verfügung – http://1986.org.ua/de/archive/memories – oder wurden in einer Ausstellung der Heinrich Böll Stiftung, S.H. – Hörbilder – gesammelt.

Im Jahr der Katastrophe – 1986 – galt Umweltschutz bei den bundespolitisch Verantwortlichen in Westdeutschland immer noch als lästig. Keine Partei wollte mit dem Thema wirklich etwas zu tun haben, mit Ausnahme der Grünen. Die gab es damals gerade einmal drei Jahre in der Opposition im Bundestag. In Hessen stellten die Grünen immerhin den Umweltminister. Heute ist der Umweltschutz Bestandteil der gesellschaftlichen Werte und Normen.

Eine spürbare Veränderung in Deutschland:
„Die Technikgläubigkeit der 50er und 60er Jahre ist so gut wie komplett verschwunden.“

Die wesentlichste politische Folge seit Tschernobyl aber ist die Globalisierung der Umweltpolitik. Endgültig scheint begriffen, dass Fehlentwicklungen auf diesem Gebiet eben keine Grenzen kennen – nicht bei der Zerstörung der Ozonschicht der Atmosphäre, und erst recht nicht bei radioaktiver Strahlung. Umweltpolitik ist heute international Chefsache.

Weitere Infos:

Es ist nun fast 35 Jahre her, dass in Tschernobyl die Nuklearkatastrophe im Block 4 des Reaktors passierte. Die Sperrzone gibt es noch immer. Doch nicht alle haben die Sperrzone verlassen.

Alena blieb in Bartalamevka und sie sagte mir: „Ich habe den großen vaterländischen Krieg überlebt. Ich habe hier meine Tiere, mein Haus. Ich bleibe.“

Sie ist mit ihrem Mann und ihrem Sohn geblieben. Beide sind sie nun schon tot. Ihre Tochter lebt in der nächsten Stadt. Aber dahin möchte Alena nicht.

Ihr Dorf gibt es nicht mehr. Es wurde zusammengeschoben und begraben, so dass niemand das Material mitnehmen konnte. Ihr Haus blieb stehen. Die Stromleitung ist unterbrochen und es gibt kein fließendes Wasser. Früher kamen noch die Mitarbeiter der Behörde. Haben den Boden auf die Strahlenwerte hin gemessen und alles auf eine Tafel in ihrem Haus geschrieben. Doch nun kommt schon lange niemand mehr.  

Heute bietet die Sperrzone um das Atomkraftwerk ein großes Forschungsgebiet für Wissenschaftler*innen. Die Natur erobert das Land zurück. Es siedeln sich Tiere an, die vor der Katastrophe dort nicht gelebt haben, wie Luchse, Elche, Wisente, Wildschweine sogar Bären.

Wie sind die Auswirkungen der Strahlenbelastung für Mensch und Tier?
Darauf gibt es keine universelle Antwort. So gibt es in den Pflanzen nach wie vor Anomalien zu sehen. Denn die Radionuklide sind jetzt in die tieferen Bodenschichten abgelagert. Sie werden von den Pflanzen mit den Wurzeln aufgenommen und die Anomalien sind in den Blättern und Früchten zu sehen.

Es ist nicht ungefährlich, in der Sperrzone zu leben. Langzeitstudien werden noch Vieles zeigen, unterschiedliche Auswirkungen sind jetzt schon abzulesen. Einige Tierpopulationen entwickeln sich gut. Doch anderen (wie z.B. den Schwalben) geht es nicht gut, sie zeigen Veränderungen im Erbgut.

Die Flora und die Fauna in der Sperrzone sind eine Andere. Täglich kämpfen die Pflanzen und Tiere gegen die Strahlungen. Das verändert das Erbgut und die Umgebung.

Aber ist ein Tourismus in der Sperrzone zu verantworten?
Ich finde nicht. Welches Motiv sollte mich leiten, die Sperrzone zu besuchen? Verfallene Gebäude zu besichtigen? Oder das Piepen des Geigerzählers im Ohr zu haben? Ein Kribbeln der Gefahr zu spüren und hinterher zu sagen, es ist alles gut gegangen?

Woher weiß ich denn, ob alles gut gegangen ist?
Als ich mich vor 4 Jahren mit Alena unterhielt, fragte ich mich, warum sie nicht zu ihrer Tochter in die Stadt zieht? Ich stellte mir vor, wie ihre Tochter sich jeden Tag fragt, ob es ihrer Mutter gut geht. Denn so einfach kommt die alte Frau nicht in die nächste Stadt. Sie ist alt und lebt vielleicht noch immer in Bartalamevka, aber ihr Sohn ist mit 40 Jahren schon verstorben.

„Die ersten Informationen zu dem, was geschehen war, entstammten allem Ansehen nach von den Umsiedlern. Denn der KGB tat seine Arbeit sehr tüchtig und ernst, würde ich sagen: Seine Mitarbeiter ließen niemand sich mit den Verwandten und Freunden in Verbindung setzten. Natürlich hatte sich schon jemand verschwatzt, und es kursierten Gerüchte, doch niemand verfügte über genauere Informationen. Uns wurde bloß gesagt, wir seien zur Pflichtwehrübung einberufen worden.“

Datenmaterial: Audioaufnahme auf Russisch; F.1 „Interviews mit Liquidatoren der Tschernobyl-Katastrophe“; Personalakte Nr. 159; das Interview wurde am 01. August 2016 aufgenommen; Interviewerin – Viktoriia Naumenko; Dauer der Aufnahme – 00:58:32. Das Interview wurde im Laufe des Projekts „Tschernobyl Oral History auf Deutsch“ im Rahmen des Deutsch-Ukrainischen Sprachenjahres 2017/2018 aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt.

Viktoriia Naumenko (nachstehend kurz W.N. genannt): Heute ist der 1. August 2016 und wir sind im Marijinskij Park der Stadt Kyjiw. Ich, Viktoriia Naumenko, interviewe Herrn – stellen Sie sich bitte vor

Nikolaj Wiktoriwitsch Bondar (nachstehend kurz N.B. genannt): Nikolaj Wiktorowitsch Bondar, stellvertretender Vorstandschef der Organisation des selbstständigem Spezialschutzbataillon 731.

W.N.: Fangen wir mit einer allgemeinen Frage an: Erzählen Sie bitte die Geschichte Ihres Lebens.

N.B.: Soll ich meine Lebensgeschichte vom Anfang an erzählen?

W.N.: Ja, vom Anfang an.

N.B.: Ich bin am 8. März 1964 in der deutschen Stadt Stendal in die Familie einer Militärangehörigen geboren. 1971 wechselte meine Familie in die Ukraine und zog in die Stadt Fastiw, Oblast Kyjiw, um. Hier schloss ich die Schule ab. Hier studierte ich und machte den Hochschulabschluss. Danach wurde ich zum Pflichtwehrdienst[1] einberufen. Nach der Entlassung vom Wehrdienst wurde ich bei einem Werk eingestellt. Dann war Tschernobyl. Nach Tschernobyl blieb ich ein Jahr lang zu Hause und ging danach zur Armee, wo ich 22 Jahre diente. 2013 ließ ich mich pensionieren… 2003 ließ ich mich pensionieren. Heute bin ich Rentner. Die Geschichte meines Lebens ist also ziemlich bescheiden.

W.N.: Eine Autobiographie.

N.B.:  Ja.

W.N.: Erinnern Sie sich an den Moment, da Sie nach Tschernobyl einberufen wurden? Wie gerieten Sie dorthin?

N.B.: Ich kann mich daran sehr gut erinnern. Als ob es gestern war! Obwohl es vor 30 Jahren war. Meine Ehefrau und ich waren gerade dabei, unseren Feierabend zu genießen. Es war nämlich 9 Uhr abends. Damals arbeitete ich noch beim Werk als Dreher…

W.N.: Wie hieß das Werk?

N.B.: Krasnyj Oktjabr. Es gab in Fastiw so einen Betrieb. Wir wollten ausgehen. Ich war damals erst 22 Jahre alt, also, ziemlich jung. Ein Jahr zuvor hatten wir geheiratet. Plötzlich klingelte es. Vor der Tür stand ein junger Mann mit dem Einberufungsbescheid in der Hand. „Hier bitte unterschreiben, so und so, oder bitte beim Militärkommissariat vorbeischauen.“ Ich ging mit ihm ins Militärkommissariat. Dort studierte man den Einberufungsbescheid und notierte etwas. Mir wurde gesagt, ich sollte für einen Tag kalte Verpflegung mitnehmen. Ich ging nach Hause, nahm die kalte Verpflegung und kam ins Militärkommissariat zurück. Wir fuhren gleich ab und… verschwanden. Vom 28. April bis zum 9. Mai wusste niemand, wo wir sind, denn es wurde uns verboten, mit jemand in Verbindung aufzunehmen. Und es stellte sich bald heraus, dass wir in Tschernobyl landeten.

W.N.: Wussten Sie schon, dass eine Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl geschehen war?

N.B.: Nein, damals verriet uns niemand was. Es war doch alles so… Heute wissen wir, dass alles so verschleiert, geheim gehalten wurde. Selbst der damalige Generalsekretär von der KPdSU[2], Gorbatschow[3], gab erst am 15. Mai 1986 die offizielle Erklärung zur Tragödie von Tschernobyl ab. Davor wurde aber alles verschwiegen. Die ersten Informationen zu dem, was geschehen war, entstammten allem Ansehen nach von den Umsiedlern. Denn der KGB[4] tat seine Arbeit sehr tüchtig und ernst, würde ich sagen: Seine Mitarbeiter ließen niemand sich mit den Verwandten und Freunden in Verbindung setzten. Natürlich hatte sich schon jemand verschwatzt, und es kursierten Gerüchte, doch niemand verfügte über genauere Informationen. Uns wurde bloß gesagt, wir seien zur Pflichtwehrübung einberufen worden. Mit solch einer Formulierung wurde unsere Einberufung begründet.

W.N.: Wann erfuhren Sie, wo Sie hingehen? Wann wurde es Ihnen gesagt? Oder erfuhren Sie davon, als Sie schon vor Ort waren?

N.B.: Ich kann mich jetzt kaum daran erinnern, wann wir davon erfuhren. Eigentlich ahnten wir schon etwas, weil wir eben zu dem Zeitpunkt einberufen wurden, da die Gerüchte von Tschernobyl schon zu kursieren anfingen. Wir waren Reservisten oder Eingetragene, wie man uns damals noch nannte. Umgangssprachlich hießen wir noch Partisanen. Unter uns gab es Vertreter verschiedener Altersgruppen. Heute wissen wir, dass es aus den Einberufenen durch 11 Militärkommissariate Kyjiws sowie der Oblast Kyjiw auf Basis von Militäreinheit 01646 Bataillon 731 gebildet wurde. Aus bestimmten Dokumenten lässt sich heute feststellen, dass es ein Geheimbataillon war. Der Staat leugnet aber diese Angaben sowie andere Tatsachen, die sich jetzt entpuppen. Wie zum Beispiel den Kriegszustand. Doch damals waren manche Menschen tatsächlich mit außerordentlichen Machtbefugnissen ausgestattet. Es war ihnen alles erlaubt, bis auf Erschießungen wegen Pflichtverletzungen. Was ich eben sagen will… Wir wurden also am Prospekt Krasnoswjosdnyj beim Zivilschutzregiment versammelt. Dieses Regiment war für den Zivilschutz und zwar für den ordnungsmäßigen Zustand und die Sicherheit des Atomkraftwerks Tschernobyl zuständig. Jedem strategischen Ziel war eine Formation, eine Truppe zugeordnet, und es gab in der Sowjetunion das Ministerium für Zivilschutzwesen. So war die Militäreinheit eben diesem strategischen Ziel zugeordnet. Auf Basis dieser Militäreinheit wurde unser Bataillon geschaffen, das 353 Personen zählte. Uns wurden Uniformen gegeben, die vorhanden waren. So kam es dazu, dass sich eine Hälfte von uns umzog und die andere Hälfte Militäruniform wie Zivilkleidung trug. Es taugte nicht alles für die bevorstehende Reise. Das alles geschah innerhalb von fünf Stunden.

W.N.: In Fastiw?

N.B.: Nein, es war schon…

W.N.: Wurden Sie schon nach Kyjiw gebracht?

N.B.: Genau. Damit Sie sich über die Situation Klarheit verschaffen, möchte ich hinzufügen, dass die Bildung eines Bataillons normalerweise drei Tage beansprucht – ich werde es ihnen einfach nicht sagen und so weiter und so fort. Unser Bataillon aber wurde innerhalb von fünf Stunden vom Zeitpunkt, als das Signal kam, gebildet. Es gibt bestimmte Signale, wie etwa Höchste-Bereitschaft-Signale oder sonstige Arten von Bereitschaft-Signalen. Sobald das Militärkommissariat das Signal erhält, fängt die Zeitzählung an. Nun stellen Sie sich vor, das Bataillon wurde nur innerhalb von  fünf Stunden gebildet. Anstatt in drei Tagen! Darin wurden Männer aus dem ganzen Kyjiw und der ganzen Oblast Kyjiw versammelt. Wir zogen uns um und stiegen in Busse ein. Hier muss ich erwähnen, dass es unter uns Vertretern verschiedene Altersgruppen gab. Manche arbeiteten als Fahrer, manche fuhren sogar Busse. Wir alle hatten vorher irgendwas irgendwo gehört, doch wir ahnten nichts. Wir erreichten Dymer und gingen dann in Richtung Tschernobyl. Und erst als wir Tschernobyl erreichten, erfuhren wir, wohin wir eigentlich gehen.

W.N.: Was wurde Ihnen gesagt?

N.B.: Diejenigen Offiziere des aktiven Dienstes, die uns dorthin brachten, sagten uns nichts. Niemand sagte uns was. Es war alles so… Na ja, typisch KGB. Das Komitee für Staatssicherheit arbeitete sehr ernst und pflichtbewusst. Die Informationen wurden geheim gehalten, und es drohte eine strenge Strafe für ihre Verbreitung. Denn Sie verstehen wohl, diese Informationen gingen von Mund zu Mund und wurden am Ende total verdreht: Es wurden zum Beispiel falsche Zahlen genannt. Aber so war das damalige System. Also, erst vor Ort erfuhren wir, wohin wir gebracht wurden. Gegen 11 Uhr vormittags des 29. April  wurden wir auf ein Feld gebracht. 5 km von uns entfernt schnaufte das Kernkraftwerk Tschernobyl. Wir konnten es von der Stelle, wo wir hingebracht wurden, sehr gut sehen. Ehe wir anfingen, das Zeltlager zu bauen, wurden wir   aufgestellt, und es wurde uns dann die Situation erklärt. Es trat ein Mann mit Oberstschulterklappen auf (wahrscheinlich war er ebenso aus der Zahl der Militärangehörigen, die aktiven Dienst leisteten) und erklärte uns den Kriegszustand. Wie schon gesagt leugnet der Staat heute das alles ab und – wie schon auch gesagt – waren bestimmte Menschen mit extra Befugnissen ausgestattet. Ihnen war das Ergebnis nicht wichtig. Genauer gesagt, war es ihnen egal, wie– mit welchen Methoden, mit welchen Mitteln – die gestellte Aufgabe erfüllt werden. Sie brauchten ausschließlich das Ergebnis der erfüllten Aufgabe. Uns wurde die Situation beschrieben und erklärt, und es wurde außerdem erklärt, was wir damals tun sollten.

W.N.: Und was war das, was Sie tun sollten? Was wurde Ihnen gesagt?

N.B.: Da wir gerade angekommen waren, blieb eine bestimmte Gruppe, um das Zeltlager errichten. Die meisten wurden aber zu Hubschraubergeländen gebracht. Es gab drei Hubschraubergelände, die Kubok 1Kubok 2 und Kubok 3 hießen. Und wir wurden in Gruppen von je fünf Personen eingeteilt. Genauer gesagt, waren wir zuerst in Gruppen, die eine gerade Zahl von Mitgliedern hatten, und ein wenig später in Gruppen von je 5 Personen eingeteilt. Es wurden nach zu den Geländen sogenannte Fallschirm-Kuppeln gebracht und mit Säcken mit Blei, Dolomitmasse, Ton, Sand und anderem beladen. Der Hubschrauber blieb über der Erde hängen und wir sollten die Kuppel… Aus etwa 5-6 Kuppeln wurde eine sogenannte „Puppe“ gemacht. Wir setzten mehrere „Puppen“ auf einen Haken und wenn der Hubschrauber hängen blieb, mussten wir die „Puppe“ am äußeren Anhänger einhaken. Der Hubschrauber flog senkrecht hinauf, damit die Kuppeln nicht reißen, damit sie nicht schleifen und der Inhalt nicht ausläuft. Wenn die Hubschrauber über den Reaktorblock flogen, blieben sie auf maximaler Höhe von 200 Metern darüber hängen und warfen die „Puppe“ in den Schlund des Reaktors. So pendelten die Hubschrauber, ohne zwischen zu landen. Was ich noch betonen möchte, ist die Tatsache, dass die Hubschrauberpiloten dabei eingesetzt waren, die erfahrene Bombardier waren. Es wurden viele Piloten einberufen, die in Afghanistan gedient hatten. Eine Staffel wurde sogar aus Afghanistan[5] extra abberufen, um den Reaktor mit diesen „Puppen“ zu bombardieren. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, wurde ihnen ein kurzer Urlaub gewährt, damit sie sich erholen. Danach kehrten sie später wieder nach Afghanistan zurück.

W.N.: Kommunizierten Sie mit ihnen?

N.B.: Aber sicher.

W.N.: Als Sie da drüben waren oder schon danach?

N.B.: Als ich da drüben war. Ich kann jedenfalls nicht sagen, dass wir ständig kommunizierten. Aber ab und zu gab es Gelegenheiten, ein paar Worte zu wechseln. Erstens mussten sie den ganzen Lichttag lang arbeiten. Wir wurden mit Verpflegung versehen. In die Feldküchen wurde so was wie kalte Verpflegung und Konserven geliefert. Die landeten natürlich auch ab und zu. So teilten wir mit ihnen das, was wir zum Essen bekamen. Konserven und so was in der Art, weil wir Einsicht hatten, dass die auch hungrig sind. Zweitens gaben wir uns Mühe, ihre Hubschrauber mit Blei einzurichten. Blei gab es in verschiedenen Modifizierungen und Kategorien. Es gab bleierne Schrottkugeln wie Blöcke, es gab Bleibleche. Wir legten die Bleibleche auf den Boden ihrer Hubschrauber und auf ihre Sessel, um ihre Rücken zu schonen. Natürlich wurde uns allmählich die Situation klar, denn es gab da drüben Radiologen, die auch einberufen wurden. Es gab also Fachleute. Ich will etwa nicht sagen, dass es unter uns keine Fachleute gab. Doch. Ich spreche aber von Wissenschaftlern wie etwa Kernphysiker. Von denen waren aber nur wenige eingesetzt. Sie sagten also, dass Blei die größte Dichte habe und die Strahlung kaum durchließe. So bemühten wir uns, den Hubschrauberpiloten den Einsatz möglichst gemütlich auszustatten. Ich weiß nicht, ob das, was wir taten, wirksam war, aber hoffentlich half es ihnen einigermaßen.

W.N.: Was empfanden Sie, als Sie alle versammelt wurden, als die Situation Ihnen erklärt wurde, als der Kriegszustand erklärt wurde? Bekamen Sie dann Angst?

N.B.: Sehen Sie, die Situation gestaltete sich irgendwie so spannend, dass ich mich bis auf den heutigen Tag an die Angst nicht erinnern kann. Es gab natürlich gewisse Verständnislücken, doch ich kann mich weder an die Angst, noch an übermenschliche Aktivität erinnern. So was gab es, glaube ich, nicht. Später – schon. Es bildete sich später im Unterbewusstsein ein gewisses Etwas. Davon möchte ich Ihnen aber etwas später erzählen. Sonst empfand man nichts.  Die Tatsache, es gäbe ringsum Radioaktivität, beeindruckte uns gar nicht. Wir sahen das Kraftwerk schaufeln. Doch der ganze Ernst der Situation hatte keine optische Gestalt. Es war nicht sichtbar, es roch nach nichts. Wenn jemand bei sonnigem Wetter ihren Rücken mit einer Taschenlampe beleuchtet, werden Sie es wahrscheinlich nicht spüren. Genauso war es damals. Heute sind wir schon alle darüber unterrichtet, was das ist und dass das, was geschehen war, bestimmte Spuren hinterließ. Sonst… wie kann ich das Ihnen erklären? Es ist kaum zu erklären, es ist schwierig, darüber zu erzählen, weil…

W.N.: Sie verstanden also damals nichts?

N.B.: Es war für uns eine kaum erklärbare Situation. So. Ich glaube, das wäre die triftigste Antwort.

W.N.: Außer der Beladung von Hubschraubern führten Sie andere Arbeiten aus…

N.B.: Hin und wieder… Es gab sehr viel zu tun. Es gab doch da drüben mehrere Regimenter. Das eine wurde gleich nach Witscha geschickt. Soviel ich verstehe, kamen die Züge mit Blei direkt aus Italien (so etwas lasen wir auf Markierungen, die auf Bleiblöcken standen). So. Damit beschäftigten sich zwei Regimente. Es wurde den ganzen Tag lang gearbeitet. Wir standen um 5 Uhr morgens auf, um 1 Uhr nachts wurden wir zurückgebracht. Wir arbeiteten mindestens 16 Stunden täglich. Dazu lebten wir 24 Stunden täglich in der dritten Zone, die als Zone der höchsten Radioaktivität galt. Dort verbrachten wir also 100 Prozent unserer Zeit. Dort stand unser Zeltlager. Wenn die Hubschrauber zum Nachtanken flogen, hatten wir Mittagspause. Parallel dazu halfen wir dabei, Menschen zu evakuieren …

W.N.: Die Einheimischen?

N.B.: Ja, die Bewohner naheliegender Dörfer. Menschen, Vieh, Sachen.

W.N.: Beschäftigten Sie sich also auch damit?

N.B.: Aber sicher.

W.N.: Sie persönlich?

N.B.: Genau.

W.N.: Welchen Eindruck bekamen Sie davon? Waren Sie sich damals der Sache bewusst, dass das alles lange dauern wird? Wie ließen sich die Menschen evakuieren?

N.B.: Was die Reaktion der Menschen angeht, die die Umgebung des Kraftwerkes bewohnten, muss ich Ihnen Folgendes sagen. Vielleicht waren sie vorher darüber unterrichtet worden, wie man sich in solchen Situationen benehmen und handeln soll. Denn sie nahmen alles ganz anders wahr. Tja, vielleicht waren sie schon unterrichtet… oder mindestens psychologisch darauf vorbereitet, dass sich solch ein Unfall ereignen kann. Wir konnten es zum Beispiel nicht verstehen… Wenn wir aber diese Dörfer betraten, fiel uns vor allem auf (und tat uns eigentlich weh), dass die Menschen einfach im Stich gelassen waren. Denn ehe das Unglück geschah, verließ die ganze dortige Spitze (die Vorsitzenden der Dorfräte) mit Kind und Kegel heimlich die Gegend. Und die Menschen blieben ihrem Schicksal überlassen. Das fiel auf. Wenn wir in diese Dörfer kamen, sahen wir schon Buskolonnen und LKWs (sogenannte Schuten) abfahrbereit stehen. Die LKWs waren offen, denn es war vorgesehen, dass jedes Fahrzeug mit Sachen von fünf Haushalten beladen werden darf.

W.N.: Aha.

N.B.: Es durfte ein Vertreter dieser fünf Haushalte den Beifahrersitz nehmen. Die Übrigen stiegen in die Busse ein und fuhren als zusätzliche Kolonne in den angegebenen Wohnort, wo sie zeitweilig untergebracht wurden. Wer wusste damals, dass sie nie wieder zurückkehren werden. Das waren die Kolonnen, die wir beladen halfen. Viele Menschen gerieten in Panik. Hysterische Anfälle gab es auch, denn viele (vor allem ältere Menschen) verstanden, was los war, und wollten deshalb nicht weg. Aber sie waren verpflichtet, den Ort zu verlassen. Wir sollten da bleiben, bis alle evakuiert werden und das ganze Vieh in Wiegeräume abtransportiert wird. So halfen wir auch, Kühe zu verladen und holten Schweine aus den Ställen.

W.N.: Waren die lebendig?

N.B.: Ja, wir holten das Vieh aus den Ställen und ließen es wiegen, ein Vertreter des Dorfrates erstellte Bescheinigungen, wo die Hausnummer, der Familienname, der Vorname und der Vatersname des Besitzers und die Zahl der Nutztiere (zum Beispiel, zwei Ferkel, 200 kg Gesamtgewicht) standen. Ob diese Bescheinigungen besiegelt wurden, kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber mindestens gab es diese Papiere. Denn später wurde den Einheimischen diese peinlichen Momente (passt nicht) entschädigt. Als wir mit dieser „Zeremonie“ fertig waren, gingen wir zurück. Zu der Zeit kamen schon die Hubschrauber, und so machten wir uns weiter mit den Kuppeln, die ich schon erwähnt habe, zu schaffen, bis es dunkel wurde.

W.N.: Und dann?

N.B.:  Dann – was? Vom 29. April bis zum 6. Mai waren wir bei der Beladung dieser Hubschrauber eingesetzt.

W.N.: Bis zum 6. Mai also.

N.B.: Ja. Am 6. Mai wurde uns Entwarnung gegeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir es geschafft, 5 000 Tonnen Fracht zu verladen. Wir luden verschiedene Menschenmengen, mal waren es 200 Menschen, mal waren es 150…

Jeden Tag nahm diese Zahl zu. Jeden Tag verluden wir immer mehr Fracht. Auch wenn die Anzahl der Menschen abnahm, luden wir immer mehr auf. Manchmal waren es über 800 Tonnen täglich. Das ganze Zeug luden wir während der Tageszeit auf, genauer gesagt, während des Lichttages. Denn damals fingen wir schon an, bestimmte Informationen zu bekommen, und waren schon besser als zuvor informiert. […] So warfen wir am 6. Mai die letzte Fracht ab. Die intensiven Emissionen hörten auf. Uns wurde der Stopp-Befehl erteilt. Es wurde gesagt, am 6. Mai werden schon die Messtechniker den Reaktor besuchen und die Radioaktivität dort messen. Danach würden bestimmte Maßnahmen getroffen, an denen wir uns beteiligen würden. Wir hatten etwa einen halben Tag frei. Während die Messtechniker ihre Arbeit ausführten, wurden wir in unser Zeltlager gebracht. Um zwei Uhr nachts aber wurden wir wachgerüttelt. Es handelte sich um eine dringende Versammlung. Sehen Sie, damals gab es die Kommunistische Partei[6] und die Komsomolzen[7].

W.N.: Aha.

N.B.:  Es wurden also aktive? Menschen versammelt. Dabei hatte es sich so  abgespielt, dass ich mit 22 Jahren schon Parteimitglied geworden war[8]. Eine erweiterte Versammlung von Parteimitgliedern war einberufen. Es waren sowohl die Komsomolzen und bloß aktive junge Menschen, als auch die Angehörigen der politischen Spitze von der Ukraine dabei. Es wurde uns mitgeteilt, dass 25 Freiwillige zum Einsatz im Kraftwerk gesucht seien und es dafür bestimmte Gründe gäbe. Natürlich konnten alle Anwesenden nicht Nein sagen. Ich war damals, wie schon gesagt, erst 22.

W.N.: Und wie viele wurden damals einberufen?

N.B.:  Bei der Versammlung waren genau 25 Personen, die wurden also alle zum Einsatz einberufen.

W.N.: Es waren also genau 25?

N.B.:  Ich glaube, schon. Oder vielleicht waren etwa 30 Personen dabei, aber es wurden genau 25 Personen gesucht. Und 25 Personen erklärten sich für den Einsatz bereit. Ich gehörte jener Gruppe auch an. Am Morgen wurden wir versammelt und zum Kraftwerk geholt. Im Zeltlager durften wir niemandem etwas verraten.

W.N.: Und wurde Ihnen nicht erklärt, worum es ging?

N.B.:  Nein. Wir kamen also ins Kraftwerk. Manche wurden mit LKWs geholt. Manche kamen mit Schützenpanzern.

W.N.: Womit kamen Sie?

N.B.: Ehrlich gesagt, hab ich das schon vergessen.

W.N.: Erinnern Sie sich nicht daran?

N.B.: Nein, um nicht zu lügen. Aber das macht nichts. Im Kellerraum des Kraftwerks wurde uns schon erklärt, was los war. Geleitet wurde die ganze „Maßnahme“ von einem Generalmajor. Es waren außerdem eine Menge Wissenschaftler dabei – etwa Chemiker, Radiologen, Kernphysiker… Sie können sich ja vorstellen, was für eine große Delegation dort zusammengetroffen war. Und da wurde uns der ganze Stand der Dinge erklärt. Uns wurden ziemlich ernste Aufgaben gestellt. Nachdem das ganze Zeug beworfen worden war, stieg die Temperatur unter der Haube an. Doch der Brennstoff, der da blieb (denn es war nicht der ganze Brennstoff ausgestoßen worden), brannte die anderthalb Meter dicke Schicht Beton durch und floss nach unten. So kam es dazu, dass das Kraftwerk allmählich in einem Becken voll Wasser sank. Es bildete sich bei der Explosion ein Kühlmantel, zu dem das Wasser hinfloss. Dazu hatten die Feuerwehrleute, die das Feuer löschten, das Becken mit Wasser ordentlich gefüllt. Es wird heute übrigens behauptet, sie hätten das lieber nicht tun müssen. Aber was getan wurde, wurde eben getan. So sagten uns alle diese Leute, alle diese Wissenschaftler. Also, Jungs, die Situation ist so: es gilt möglichst schnell, das Wasser aus dem Reaktor herauszupumpen. Denn, wenn dieser glühend heiße Reaktor ins Wasser fällt, wird er abrupt abgekühlt und es gibt eine Explosion, die einer Wasserstoffbombe gleichkommt. Und dann bleibt im Umkreis von 500 Metern vom Explosionsherd nichts Lebendiges… Eure Aufgabe ist es, dieses Wasser herauszupumpen, damit der Reaktor, auch wenn er dorthin, in dieses Becken, absinkt, zumindest kein Wasser abbekommt, dann wird nichts Ernsteres, Gravierenderes passieren. Also, ja, die Tragödie ist schon da, aber wir werden keinen Milliarden- und Millionen-Schaden bekommen. Das sie sagten halt alle. Doch es gab eine kleine Bemerkung. „Ihr kennt schon die Situation. Und wenn ihr nicht bereit seid, die gesetzte Aufgabe zu erfüllen, habt ihr immer noch eine Chance, es zu verweigern“, sagte uns einer von denen. „Denn es ist höchst wahrscheinlich, dass ihr nicht lebend zurückkehrt“, wurde uns gesagt. Das wurde uns ganz ehrlich, ganz offen ins Gesicht gesagt. Doch niemandem von uns fiel ein, Nein zu sagen.

W.N.: Erinnern Sie sich, was Sie empfanden, als Sie das hörten?

N.B.: Was konnte ich denn empfinden? Mir stand ein klares Bild vor Augen… Es handelte sich doch um Millionen Menschenleben. Vielleicht nicht um Milliarden, doch jedenfalls um Millionen. Wir analysierten vor sich hin die Situation und, ohne ein einziges Wort zu sagen, blickten einander an. Wir stellten unsere 25 Leben der Zahl von den Menschenleben gegenüber, die… Na ja, erstens hatte jeder von uns eine Familie, Kinder, Freunde, Bekannte hinter sich. Das alles spielte eine wesentliche Rolle. Wir machten uns darüber also keine großen Gedanken. Wir taten, was wir tun sollten.

W.N.: Aber wie?

N.B.: Wie (N.B. lacht)?

W.N.: Ja. Wie schafften Sie es, das Wasser auszupumpen?

N.B.: Es wurde zuerst ein Selbstfahrgeschütz hingetrieben. Man wollte eine der Wände durchbohren und eine Rohrleitung vom Reaktor verlegen. Aber aus Angst, es könne zu einer Detonation oder einer anderen Reaktion kommen, musste man  sich bald auf diese Idee verzichten. Dann wurden wir in Kleingruppen von je 5 Personen eingeteilt. Jede Kleingruppe bekam einen Begleiter – eine Person, die beim Kraftwerk arbeitete. Hier stehe ich übrigens mit Kapitän Borowskij, der schon tot ist. Vor seinem Tod wurde er stark bemäkelt. Und Kapitän Tkatschenko war mein Kompaniechef.  Wir wurden also in Kleingruppen von je 5 Personen eingeteilt. Eine Kleingruppe bekam einen Bruchhammer und musste die Wand durchschlagen, damit die Röhre verlegt werden kann. Die sonstigen Kleingruppen liefen herum, später verlegten wir diese Schläuche und dann… hin und wieder… Ich war zweimal unter dem Reaktor…

W.N.: Gingen Sie also herunter?

N.B.: Na ja. Nach oben gingen wir durch Etagen. Auf die dritte Etage… und dann von der dritten Etage gingen wir in die Keller. Irgendwo mussten wir unterwegs robben, manche Strecken legten wir im Laufen zurück… Wir wurden vorgewarnt, wir sollen alles sehr schnell tun, denn je schneller wir vorwärts drängen, desto mehr Chancen bekamen wir, zu überleben. Wir erhielten außerdem Messgeräte. Und es gab Zonen, wo die Strahlungswerte so hoch waren, dass die Messgeräte versagten… Es waren die Messgeräte, die uns die Armee zur Verfügung stellte. Die japanischen „blinden“ Messgeräte wurden uns nicht ausgehändigt. Niemand wollte, dass wir vollständig informiert sind. Bei jenen japanischen Messgeräten wurden die Messdaten per Computer geprüft. Also, wir wussten es nicht genau. Jedes Mal, wenn wir nach innen mussten (egal wie die Prozedur hieß), wurden uns allen die Messgeräte gegeben. Als wir wieder nach draußen kamen, mussten wir die Messgeräte abgeben. Die wurden geprüft, auf Null gesetzt, geladen und dann an demselben oder am nächsten Tag einer weiteren Gruppe gegeben. So war es.

W.N.: Verbrachten Sie dort zwei Tage?

N.B.:  Na ja… Wir wurden also am siebten und achten eingesetzt. Am siebten arbeiteten wir in Kleingruppen von je fünf Personen. Es gab also fünf Kleingruppen.

W.N.: Machte jeder je eine Runde?

N.B.: Stimmt. Das Wasser wurde ausgepumpt. Wir mussten durch diese Etagen und Kellerräume laufen. Ein Feuerwehrmann aus der Reserve musste mit dem Feuerwehrwagen durch das Kraftwerkgelände die Stelle anfahren, wo wir schon mit Schläuchen warteten. Unsere Aufgabe war also, die Schläuche dem Feuerwehrwagen anzuschließen und abzuwarten, bis der Feuerwehrwagen anfängt, das Wasser auszupumpen.

W.N.: Und dann am Ende den Schlauch trennen?

N.B.: Genau. Wir mussten die Schläuche dann abtrennen und möglichst schnell davonlaufen. Zurück liefen wir alle schneller als dorthin. Ich weiß nicht, warum. Sehen Sie, es gibt Dinge, die kaum zu erklären sind. Man tut sie, ohne lange nachzudenken…

W.N.: Erinnern Sie sich, wie es unter dem Reaktor war?

N.B.: Wieso denn nicht? Ich erinnere mich an den ersten Tag sehr gut. Die Erinnerungen an den zweiten Tag sind schon aber fragmentarisch, denn am zweiten Tag wurde mir schlecht. Ich kam im dritten Reaktorblock wieder zu mir (der dritte und der vierte Reaktorblöcke lagen nämlich einander nahe), und zwar in einem der Büros von der Verwaltung des dritten Reaktorblockes. Es stellte sich heraus, dass die Jungs mich dorthin…

W.N.: … gebracht hatten.

N.B.: Ja, hingebracht oder hingeschleppt hatten die mich. Ich weiß nicht, wie das alles war. Als ich wieder zu mir kam, saß ich an einem Tisch. Ich wurde aufgerüttelt, ich besann mich und lief weg. Wie es dort aber war…

W.N.: Sie erinnern sich aber gar nicht, wo Ihnen schlecht wurde?

N.B.: Nein.

W.N.: Sie erinnern sich also nicht?

N.B.: Ich erinnere mich allerdings, wie wir hinkamen und die Schläuche anschlossen. Vielleicht wurde ich zu dem Zeitpunkt ohnmächtig, da wir alle warteten, bis ich das Wasser auspumpe, denn ich… Ich erinnere mich an diesen Moment nicht. Daran, was am ersten Tag war, erinnere ich mich gut. Ich erinnere mich, wie wir liefen, wie wir die Wand entlang standen. Ich erinnere mich an die zwei oder drei Meter dicken Wände. Wir standen mit unseren Rücken zum Reaktor und sahen, wie die Schläuche ins Wasser tauchen und das Wasser abgepumpt wird. Als wir zum ersten Mal die Schläuche abtrennten, schoss Wasser auf uns, und wir liefen schon pudelnass davon. (Wenig Wasser kann auf einen spritzen, Wasser schießt in großen Mengen auf einen.)

W.N.: Und was hatten Sie an? Schutzkleidung?

N.B.: Während wir die Fallschirm-Kuppeln herstellten, hatten wir nicht einmal Schutzmasken an. Erst ein paar Tage später rochen wir sozusagen den Braten und gingen nach Tschernobyl, wo wir in einige Lager einbrachen (wir knackten bloß die Schlösser) und nahmen dort Spaten und Schutzmasken. Denn sonst hatten wir nicht einmal Handschuhe. Beim Einsatz im Kraftwerk wurden wir mit Gummi-Schutzanzügen und Gasmasken versorgt. Doch die störten uns unheimlich. Erstens konnte man in den Gasmasken kaum was sehen. Die  Linsengläser beschlugen von innen, es war heiß. In den Schutzanzügen war es total unbequem zu laufen. Es klammerte sich alles daran. Umso mehr, dass man sich in der Dunkelheit der Kellerräume den Weg bahnte und mal etwas überschreiten musste oder überspringen, mal auf Knien unter einem Rohr kriechen musste. Mal hackte? man was ein, mal prallte man gegen etwas an…Vielleicht wäre es uns viel einfacher gewesen, ohne Schutzanzüge und Gasmasken zu arbeiten. Als wir uns auszogen, war unsere Kleidung vom Schweiß bis auf die Haut durchgeweicht. Wir kamen ins Kraftwerk, zogen uns aus, gingen in die Duschräume, wo wir uns wuschen. Es ist mir bis auf den heutigen Tag im Gedächtnis geblieben, dass wir uns mit kaltem Wasser wuschen, damit sich die Hautporen nicht öffnen, damit…

W.N.: Damit der Körper durch die Poren nicht radioaktiv verseucht wird.

N.B.: …damit der Staub in den Körper durch die Poren nicht gerät. Das warme Wasser entspannt den Körper und lässt ihn atmen. Radioaktiven Staub gab es ziemlich viel. Also, wir wuschen uns mit kaltem Wasser und der Seife, dann gingen wir nackt zum Messgerät (in jedem Umkleideraum gab es eins) und stellten uns davor in voller Größe. Das Messgerät zeigte dann, was noch radioaktiv verseucht blieb – eine Hand, ein Bein, linker Körperteil, rechter Körperteil. Gab das Messgerät zu einem oder mehreren Körperteilen ein bestimmtes Signal, hieß es also, dass dieser Körperteil oder diese Körperteile noch radioaktiv verseucht waren. Und dann ging man und wusch diesen Körperteil weiter.

W.N.: Musste man viele Male aufs neue waschen?

N.B.: Manchmal ging man drei- oder vielmal wieder waschen.

W.N.: Wirklich?

N.B.: Ja. Danach bekamen wir neue Unterwäsche und neue Kleidung. Als wir zum ersten Mal eingesetzt wurden, wurde uns die ganze Uniform weggenommen. Statt deren bekamen wir weiße Kleidung. Ins Zeltlager wurden wir mit einem Lastwagen, im offenen Wagenkasten, gebracht.

W.N.: Im offenen Wagenkasten also.

N.B.: Als wir ins Zeltlager gelangten, kriegten wir eins auf den Hut, weil wir ohne Uniform gekommen seien und die einen guten Batzen Geld koste, und es wurden uns angedroht, uns würden die Kosten für die Uniform vom Gehalt abgezogen. Dann wurden wir mit neuer Uniform versehen, doch am nächsten Tag wiederholte sich die Geschichte.

W.N.: Wurde die neue Uniform etwa wieder weggenommen?

N.B.: Wir gingen in jener weißen Uniform. Dafür bekamen wir die volle Breitseite ab, doch bald beruhigten sich unsere Chefs. Am achten gingen wir dorthin das letzte Mal und taten unsere Arbeit. Am neunten ließ man die 25 Personen bei der Morgenaufstellung vor das Bataillon treten. Wir stiegen in den Bus ein, uns wurden Dankschreiben vom Kyjiwer Militärbezirk „Krasnosnamenkij“ ausgehändigt. Da darauf Orden waren, sahen diese Dankschreiben dem Lenin-Orden[9] ähnlich. Uns wurde gesagt, irgendwann später werden wir vielleicht jene hohen Auszeichnungen bekommen. Und, also, wir wurden in ein Militärspital gebracht. Die Übrigen blieben da drüben bis zum 15. Mai, bis die Truppen abgelöst wurden.

W.N.: Sie gingen also gleich ins Militärspital?

N.B.: Ja, wir blieben dort zwei Wochen.

W.N.: Also, alle, die das Wasser auspumpten gingen ins Militärspital?

N.B.: Genau. Wir hatten die höchstzulässige Strahlungsdosis bekommen… Na ja, eigentlich war es damals verboten, die wahren Strahlungsdosen in unsere Akten einzutragen. Heute wissen wir aus zahlreichen Dokumenten, dass ein Verbot bestand, manche Erkrankungen und hohe Strahlungsdosen mit Tschernobyl, mit uns, den Menschen, die an der Lokalisierung der Katastrophe und der Beseitigung ihrer Folgen teilnahmen, zu verbinden. Wir verfügen heute über eine ganze Menge von Dokumenten, die das, was ich jetzt behaupte, beweisen. Wenn nötig, können wir diese Dokumente Ihnen zur Verfügung stellen.

W.N.: Zur Veröffentlichung.

N.B.:  Ja, zur Veröffentlichung. Es gibt darunter viele authentische Quellen, viele Originale.

W.N.: Es wäre toll.

N.B.: Ja, es ist ein ziemlich interessantes Thema.

W.N.: Sagen Sie nun, welchen Eindruck bekamen Sie vom Kraftwerk, als Sie dorthin kamen? Sie sahen es also zum ersten Mal, stimmt’s?…

N.B.: Na… welcher Eindruck konnte es sein? Sie kamen heute in den Marijinskij Park. Welchen Eindruck bekamen Sie davon? Ein Park ist eben ein Park. Genauso war es dort. Ein übliches Kraftwerk. Aber natürlich war es verboten, es zu betreten, weil die Strahlungswerte dort ziemlich hoch waren. Es gab aber selbst im Kraftwerk Stellen, wo die Strahlungsbelastung gleich Null waren.

W.N.: Wirklich?

N.B.: Es gab Stellen, wo es überhaupt keine Strahlung gab. Verstehen Sie? Uns freute die ganze Gegend natürlich nicht, doch wir machten uns darüber keine großen Gedanken.

W.N.: Legten Sie darauf keinen großen Wert?

N.B.: Aber natürlich nicht. Wissen Sie, wir hatten eine konkrete Aufgabe und waren eingestellt, die zu erfüllen.

W.N.: Welche Verhältnisse bildeten sich innerhalb Ihrer Gruppe, während Sie da drüben waren? Es gab doch allerdings Zeit, ein paar Worte zu wechseln oder Eindrücke zu tauschen?

N.B.: Wissen Sie, ich habe das Wesen Ihrer Frage verstanden. Eigentlich blieben mir keine Gespräche im Gedächtnis. Zu ersten Eindrücken gehört ein Fass mit Kwas. Man konnte ein Glas des Getränks zu 3 und zu 6 Kopeken kaufen. Wir, die wir natürlich alle erwachsen waren, klauten dieses Fass. Kurz gesagt, schafften wir es mit Kniffen und Pfiffen, das Fass in unser Zeltlager zu schleppen (N.B.). Natürlich tranken wir den Kwas. Menschen, die nach drüben kamen, hatten nicht so viel Geld und nicht so viele Sachen mit. Sie kamen, um bestimmte Aufgaben lösen, und da stellte jemand ihnen noch Rechnungen aus. Ich weiß nicht, wie die Dame, die für das Fass verantwortlich war, von der Situation davonkam, wir blieben aber unbehelligt. Wie konnten sonst meine Eindrücke sein? Es wurde normalerweise in Paaren gearbeitet. Ich weiß nicht, vielleicht sprachen wir mit einander. Natürlich beobachteten wir, wie die Hubschrauber flogen. Es bekam jeder ein rotes Fähnlein. Wenn die „Puppen“ fertig waren, musste man mit dem Fähnlein dem Hubschrauber ein Zeichen geben. Sieht man das Zeichen, heißt es, dass die „Puppe“ fertig ist. Dann fliegt der Hubschrauber an und bleibt hängen. Worüber konnte man sonst sprechen? „Guck mal, die Kuppel ist gefallen!“ Jede Fracht wog gute 5 Tonnen und fiel gleich in den Reaktorschlund. Wenn die Kuppel das Ziel traf, gab es ein Aufblitzen und einen lauten Geräusch „Puhh!“.

W.N.: Konnten Sie wirklich sehen und hören, wie das Zeug fällt?

N.B.: Aber sicher. Wir wohnten doch fünf Kilometer vom Kraftwerk entfernt und die Stelle, wo wir die Hubschrauber beluden, lag 3 km vom Kraftwerk entfernt. Und das alles auf freiem Felde!

W.N.: Na ja.

N.B.: Umso mehr, dass MI-8 und MI-6 eingesetzt wurden, die schön groß waren. Das Kraftwerk war natürlich auch zu sehen.

W.N.: Gingen Sie von Ihrem Zeltlager zum Hubschraubergelände zu Fuß?

N.B.: Nein, wir wurden dorthin gefahren.

W.N.: Sie wurden dorthin gefahren?

N.B.: Ja, wir wurden mit Lastkraftwagen dorthin gebracht. Wir wurden in die LKWs geladen und dorthin gefahren.

W.N.: Und wie war’s mit der Verpflegung?

N.B.: Bis die Generäle unser Zeltlager besuchten, bekamen wir kaum was zum Essen. Mit kalter Verpflegung und Konserven wurden wir zwar versehen, aber sonst gab es kaum etwas. Natürlich hatten wir eine Küche… Aber eigentlich blieb mir die Sache mit der Verpflegung nicht im Gedächtnis. Wir standen frühmorgens auf, aßen etwas in der Eile. Ehrlich gesagt kann ich mich kaum daran erinnern, was das für Essen war. Also, hauptsächlich handelte es sich um die kalte Verpflegung, bis diese Generäle kamen. Und dann kamen wir nachts ins Zeltlager zurück… Von welchem Abendbrot konnte die Rede sein?

W.N.: Gingen Sie dann also gleich schlafen?

N.B.: Na ja, dann ging es schnell schlafen. Wir wohnen in einem großen Soldatenzelt für 50 Personen. Wir bastelten dort eine Pritsche für 10 Personen. Ehrlich gesagt zogen wir nicht immer unsere Stiefel aus und deckten uns mit einem Soldatenrock. Stellen Sie sich vor, wie es auf dem Feld war: Nachdem die Hubschrauber ihre Frachten runterwarfen und es ein Aufblitzen gab, flog der ganze Staub mit Schotter und allerlei Staubbrocken und klebte sich an unsere Soldatenröcke und die ganze Kleidung. Und wir mussten das alles einatmen.

W.N.: Sie bekamen also keine Schutzmasken?

N.B.: Nee. Wir bekamen sie, als wir in diese Lager in Tschernobyl einbrachen …

W.N.: Das geschah aber vor Ihrer Abreise.

N.B.: Tja, es waren vor der Abreise etwa zwei oder drei Tage geblieben. Am Anfang aber… Also, die Haut schuppte uns ab, wir dachten aber, die Sonne sei daran schuld. In der Wirklichkeit aber wurde unsere Haut durch den radioaktiven Staub verbrannt. Es kratzte uns im Hals, die Augen tränten, es war uns komisch. Aber wiederum dachten wir, es sei alles darauf zurückzuführen, dass wir im Feld bei sehr heißem Wetter arbeiten mussten. Genauer gesagt, war es am Tag heiß, doch am Morgen waren die Zelte mit Raureif bedeckt. Es war doch April und Anfang Mai.

W.N.: Und wann wurde Ihnen die Tatsache bewusst, dass es sich um eine große Tragödie handelt?

N.B.: Schon Jahre später… Na ja, wir hatten alle Chemieunterricht in der Schule, legten aber auf die Mendeleew-Tabelle[10] keinen großen Wert. Als es zu körperlichen Beschwerden kam, wurde es uns allmählich klar, dass bestimmte chemische Elemente auf bestimmte Körperteile Wirkung ausüben können. Und wir fingen an zu analysieren, worin das sich resultieren konnte, was dazu geführt hat, wessen Nachlässigkeit daran schuld war, ob der menschliche Faktor darin eine Rolle spielte. Jemand hatte etwas nicht rechtzeitig durchdacht, alle waren der Unbesiegbarkeit der Sowjetunion sicher. Alle waren sicher, dass man sich alles gönnen kann, was man will. Und dann erwies es sich, dass man sich täuschte, dass diese Handlungsweise nicht immer funktioniert… Aber andererseits will ich Ihnen sagen, es ist zu spät, das alles zu bereuen. Hätte ich diese Arbeit nicht gemacht, hätte dann jemand anderer sie tun müssen. Nach Gottes Willen kamen bestimmte Personen im bestimmten Ort zusammen. Genauso ist es bei Flugunfällen. Eine bestimmte Anzahl von Menschen kommt dabei ums Leben. Doch, wie die Statistik zeigt, gibt es unter denjenigen, die Tickets zum verhängnisvollen Flug kaufen, immer etwa 30 Prozent, die die Reise absagen und die Tickets deswegen zurückgeben müssen. Genauso ist es mit Kreuzfahrtschiffreisen. Genauso war es damals bei uns. Vielleicht waren wir vom Gott erwählt, und Gott sei Dank kam niemand von uns bei diesem Einsatz ums Leben, und bis auf den heutigen Tag beschert uns Herr Gott Gesundheit, obwohl sich aus den Dokumenten, zu denen wir jetzt Zugriff haben, feststellen lässt, dass wir damals als Kanonenfleisch gebraucht wurden und daraus lebend nicht zurückkehren sollten. Verstehen Sie? So dachten mindestens die hohen Chefs da oben. Während wir des Ernstes der Lage nicht bewusst waren, waren sie aufs Beste informiert. Doch Herr Gott beschützte uns… Es besteht heute ein riesiges Problem. Aus den 75 Personen… 750 Personen, die einberufen waren – obwohl die Militäreinheit bis 1990 funktionierte, gab es zwei Einberufungen. Es wurden jedes Mal je 353 Personen einberufen, insgesamt sind es etwa 750 Personen – sind heutzutage nur noch 120 am Leben. Die Übrigen sind schon tot. Von der Anzahl der von, sagen wir, 29. April bis zum 15. Mai Einberufenen leiden etwa 70 Prozent an Krebskrankheiten. Und das ist selbstverständlich der Widerhall der Tschernobyler Tragödie.

W.N.: Sagen Sie nun bitte, wann kehrten Sie nach Hause zurück?… Oder gingen Sie zuerst ins Krankenhaus?

N.B.: Wir ließen uns dort ein paar Tage frei geben. Ins Militärspital wurden wir am 9. Mai gebracht …

W.N.: War das ein Kyjiwer Spital?

N.B.: Ja, Regionales Militärspital Nr. 408 an Lessja Ukrainka Boulevard. Es war doch der 9. Mai, der Tag des Sieges. Wir hatten die weiße Schutzkleidung an, als wir hinkamen. Wir baten den Oberarzt des Spitals  (ich erinnere mich eigentlich nicht genau, ob es ein Oberarzt oder sein Stellvertreter war), uns ein paar Tage frei zu geben. Es war doch sowieso Feiertag, außerdem hatten wir unsere Familien eine Ewigkeit nicht gesehen. Es wusste doch niemand, wo wir sind und wie es uns geht!

W.N.: Schrieben Sie keine Briefe nach Hause?

N.B.: Von welchen Briefen sprechen Sie? Bei der Arbeit waren wir tatsächlich mit Waffen bedroht! Wir waren ständig von Mitarbeitern des KGB bewacht. Die Jungs, die bis zum 15. Mai geblieben waren, erzählten mir später, ihnen sei damals jede Möglichkeit abgeschnitten gewesen, mit denen zu sprechen, die sie ablösten, weil die Mitarbeiter des KGB immer in der Nähe waren und sie alle mit einander nicht kommunizieren ließen.

W.N.: Mannomann!

N.B.: Und was uns angeht, so kamen wir, wie gesagt, am neunten Mai ins Spital und erklärten dort, wir möchten den Feiertag zu Hause verbringen. So ließ uns der Oberarzt gehen, vorausgesetzt, dass wir am nächsten Tag punkt 10 Uhr zurück sind und die Uniform, angeblich zur Verwertung, mitbringen. So gingen wir alle nach Hause. Dazu muss ich noch hinzufügen, dass es sich so zugetragen hatte, dass acht von denen 25 Männern, die eingesetzt wurden, genauso wie ich aus Fastiw kamen. So gingen wir acht nach Hause. Auf dem zentralen Platz gab es Feierlichkeiten zum Tag des Sieges, und als wir dort erschienen, fielen wir gleich jemandem Schneidigen auf. „Schaut mal! Ich hab neulich im Fernsehen gesehen, dass man eben in Tschernobyl in solcher Kleidung herumläuft!“, schrie ein Mann auf. Und da sagten wir, wir seien gerade von drüben gekommen. Die heikle Situation, die dann entstand, hinterließ ein unbehagliches Gefühl. Plötzlich schwiegen alle, die Menschentraube (gute paar hundert Leute) trat auseinander und ließ uns alle in voller Stille durch. Es kam mir sehr beleidigend vor. Als ob wir Pest hätten! Als ob wir ansteckend seien!

W.N.: Hatte man damals vor Ihnen Angst?

N.B.:  Sieht so aus. Als ich nach Hause kam, ging ich gleich ins Dachgeschoss (ich wohne nämlich in einem zweistöckigen Haus) und zog die Kleidung aus. Zu Hause ging ich gleich waschen.

W.N.: Haben Sie die Kleidung abgeworfen?

N.B.: Nein, die haben wir in eine Plastiktüte gelegt. Hätten wir gewusst, dass sie auch kontaminiert sein kann, hätten wir sie noch drüben oder im Krankenhaus ausgezogen. Stattdessen brachten wir die Kleidung nach Hause und warfen sie am nächsten Tag in Müllcontainer. Somit war die Sache erledigt. Danach verbrachten wir zwei Wochen im Spital, wo wir uns untersuchen ließen, wo uns Blutproben entnehmen wurden, allerlei Röntgenaufnahmen gemacht wurden uns so weiter und so fort. Bei der Entlassung wurden Befunde erstellt, laut deren wir im Großen und Ganzen gesund waren. Und so kehrten wir auf unsere Arbeitsplätze zurück.

W.N.: Und wie ging es Ihnen damals wirklich?

N.B.: Damals…

W.N.: Ging es, stimmt?

N.B.: Tja, es gab damals keine Beschwerden. Erst später kam das Institut für Radiologie in Puschtscha-Wodiza in Frage. Als es schon die ersten Krebsfälle gab, wurde ein Register mit den Namen der durch die Folgen der Tschernobyler Katastrophe betroffenen Mitarbeiter des Kraftwerks und Einberufenen erstellt. Die Angehörigen unseres Bataillons erhielten erst 2003 den Status „Liquidatoren“. Also, die Liquidatorausweise hatten wir vorher bekommen, die wurden uns durch die Militärkommissariate ausgestellt, die uns einst einberufen hatten. Doch was den Status des Bataillons angeht, erlangten wir ihn – genauer gesagt, eroberten wir ihn – erst 2003. Erst 2003 wurden wir für Liquidatoren erklärt. Es wurde ein Regierungsausschuss gebildet, der unseren Fall behandelte. Wir hatten eine Initiativgruppe. Heute setzen wir diese Arbeit fort. Es sind schon 31 Jahre vergangen, doch unser Kampf geht immer weiter. Man will den ganzen Ernst, die ganze Bedeutung davon, was wir damals in Tschernobyl getan hatten, bis zum Ende nicht wahrnehmen.

W.N.: Schauen Sie mal… Das Verhältnis, mit dem Sie damals, am 9. Mai, konfrontiert wurden… Dann sind Sie ins Militärspital gegangen. Danach sind Sie wieder nach Hause zurückgekehrt… Wie wurden Sie von Ihren Nachbarn und Kollegen behandelt? Wurden Sie von Ihrer Umgebung auf eine irgendwie besondere Weise behandelt, weil Sie in Tschernobyl waren?

N.B.: Nein, so was gab es nicht, denn sehr vielen waren die Situation nicht klar und sie wollten auf die Einzelheiten nicht eingehen. Auch heute ziehen nur wenige vor, sich damit auseinanderzusetzen. Als es später Gedenktage und so was in der Art gab, wurden dann mehrere Leute in die Sache miteinbezogen. Aber auch heute sind nur diejenigen, die durch das Unglück betroffen wurden, seines Ernstes bewusst. Diejenigen, die davon nicht betroffen wurden, legen darauf keinen großen Wert.

W.N.: Wie meinen Sie, genügen diese Gedenkveranstaltungen?

N.B.: Nein. Sie genügen ganz und gar nicht. Wissen Sie, was daran am Beleidigenden ist? Sie haben die Angehörigen unserer Einheit dank IBB e.V. Dortmund, dank Ljuba Negatina, dank der Personen, die mit allen diesen Veranstaltungen verbunden sind, gefunden. Ljuba Negatina hat uns gefunden. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie das alles verlief… Aber es waren Deutsche eingeladen, die auf die Idee kamen, eine Wanderausstellung zu machen. Jetzt befindet sich diese Ausstellung in Charkiw. In der Ukraine gab es, glaube ich, eine oder zwei Ausstellungen…

W.N.: Die eine ist im Moment in Dnipropetrowsk[11], die andere – in Charkiw.

N.B.: Es wurden außerdem einige Ausstellungen in Deutschland veranstaltet. Wir Teilnehmer wurden gute zwei Jahre tüchtig ausgewählt, und es wurden am Ende nur sechs Vertreter ausgewählt. In der Begleitung von Dolmetschern haben wir ganz Deutschland bereist. Ich habe sehr viele deutsche Städte besucht… etwa 50 oder 60… aber…

W.N.: In Deutschland?

N.B.: …Na ja, ich habe etwa 20 Städte besucht.

W.N.: In Deutschland?

N.B.: Ja.

W.N.: Mit dieser Ausstellung?

N.B.: Genau. Wir begleiteten diese Ausstellungen. Sie wurden alle übersetzt. Ich nahm am Veranstalten dieser Ausstellung teil, indem ich sie mit Informationen versorgte. Unsere Fotos sind dort zu sehen, dazu sind auch Audio- und Videomaterialien verfügbar. Diese Ausstellung hat ganz Europa bereist, manche von uns begleiteten sie in Polen und Großbritannien, ich reiste aber hauptsächlich nach Deutschland. So. Wir besuchten sehr viele Städte. Überall wurden wir herzlich empfangen. Wir sprachen mit den Deutschen mit Hilfe von Dolmetschern. Sehr viele Leute besuchten unsere Veranstaltungen, hörten sich aufmerksam die Informationen an. Dann gingen wir in kleinere Räume, wo man uns Fragen stellen konnte. Wir beantworteten alle Fragen und erzählten alles, was die Menschen interessierte.

W.N.: Aha.

N.B.: Es gab damals eine Menge Fragen. Wieso habe ich das jetzt erwähnt? Es ist ziemlich beleidigend, dass die Europäer das Unglück, das im Atomkraftwerk Tschernobyl geschah, mit großem Interesse und  Mitleid wahrnehmen, während unsere Landsleute undankbare Gleichgültigkeit zeigen. Auch heute besteht dieser Informationsmangel, obwohl wir viel aus eigener Initiative tun, indem wir Treffen veranstalten, Gedenkstätten und Denkmäler errichten lassen und Materialien vorbereiten. Wir geben uns viel Mühe, wir nehmen immer gern Kontakt auf, damit die Jugendlichen und die jüngeren Generationen nicht so gleichgültig sind. Die Geschichte ist eben die Geschichte, sie muss beachtet werden. Nicht die sozialen Aspekte sind unserer Organisation wichtig, sondern die ganze Informationsschicht. Wir wollen, dass die Gerechtigkeit triumphiert. Denn viele Menschen, die da drüben waren, sind noch am Leben. Denn sogar im Ministerkabinett der Ukraine (auch dort haben wir die Türklinken geputzt) wurde uns ins Gesicht gesagt, alle Liquidatoren seien schon tot. „Wie bitte“, sagte ich, „Wer sind wir denn?“ – „Gute Frage. Wer seid ihr eigentlich?“ Dann zeigten wir denen aus dem Ministerkabinett allerlei authentische Dokumente, die uns manche Behörden irgendwann ausstellen ließen und die sie dann vernichteten, während bestimmte Behörden, Ämter und Organisationen nur Kopien verlangten. Dank dieser Originaldokumente begannen wir allmählich „aufzutauchen“. Ich glaube also, von denen Menschen sind noch viele am Leben. Einer von diesen Menschen spricht jetzt mit Ihnen.

W.N.: Na ja.

N.B.: Verstehen Sie? Diese Menschen sind noch am Leben! Natürlich kann ich nicht behaupten, dass alle von den 25 Personen, die am Auspumpen teilnahmen, noch am Leben sind. Dasselbe betrifft die Angehörigen des Bataillons. Viele Menschen haben nämlich durch des Schicksals Fügung ihre Wohnorte gewechselt. Soviel wir wissen, leben jetzt manche von uns in Kasachstan, Russland und Weißrussland. Die Menschen sind bloß ausgewandert. Manche wissen von der Organisation nicht, obwohl wir davon ziemlich viel und ziemlich oft sprechen, damit die Menschen mit uns Kontakt aufnehmen. Auch heute verschweigen wir unsere Organisation nicht… Und es kommen auch heutzutage viele Menschen zu uns und werden Mitglieder der Organisation.

W.N.: Finden Sie immer noch betroffene Menschen?

N.B.: Genau, auch heute arbeiten wir mit vielen zusammen. Es kam einer in der vorigen Woche zu uns, er hatte es irgendwie geschafft, uns zu finden.

W.N.: Ist er Ukrainer?

N.B.: Ja. Unter uns gibt es auch viele Kyjiwer!

W.N.: Wirklich?

N.B.: Und ob! Viele haben früher ihre eigenen Leben gelebt. Als sie aber gesundheitliche Probleme bekamen, fingen sie an, Leidensgefährten zu suchen. Sie kennen doch unsere Bürokratie: Ein Mensch ein Problem, kein Mensch kein Problem[12]. Umso mehr, wenn es um die Menschen geht, die mit Tschernobyl verbunden sind. Je weniger Menschen, die von der Tschernobyler Katastrophe betroffen sind, desto besser. Man kann uns natürlich nicht im Stich lassen und auf uns nicht verzichten, doch niemand will unsere Existenz akzeptieren. So ist der heutige Stand der Dinge.

W.N.: Kamen Sie nach 1986 mal wieder nach Tschernobyl?

N.B.: 2000, glaube ich… Oder 2001. Wir gingen dorthin einmal, mindestens, was mich anbetrifft. Wir waren dorthin als Vertreter unserer Organisation geschickt worden. Damals hieß sie „Nabat[13]“, dann wurden wir geteilt. Im Fernsehsender Inter[14] gab es die „Situation“, eine von Stognij[15] moderierte Sendung, und darin wurde eine Dokumentation über unser Bataillon gezeigt, und so gingen wir im Rahmen dieses Projektes nach Tschernobyl.

W.N.: Ach so. Sie hatten ein bestimmtes Ziel.

N.B.: Na ja, wir haben die Stellen besucht, wo wir 1986 waren. Danach hatten wir dort natürlich nichts mehr zu suchen. Aber, ehrlich gesagt, strebten wir nicht danach, dorthin zu fahren…

W.N.: Was empfanden Sie, als Sie nach so vielen Jahren dorthin gerieten?

N.B.: Also, es war einigermaßen interessant. Wir versuchten uns zu erinnern was wo lag. Aber eine Bodenschicht war schon vorher abgeschält. Unser Bataillon existierte bis 1990, nach uns gab es noch drei Einberufungen. Doch die Jungs, die uns ablösten, – die zweite Einberufung also – mussten eine ganz-ganz ernste…

W.N.: Eine ernste Aufgabe erfüllen?

N.B.: …eine ganz ernste Arbeit ausführen. Die erste Einberufung befasste sich mit der Lokalisierung und der Beseitigung der Havarie. Lokalisierung steht im Grunde genommen für das Feuerlöschen; unter der Beseitigung versteht man die Beseitigung der Folgen der Havarie. Wir beluden also die Hubschrauber und pumpten das Wasser aus. Vor dem Ablösen begleiteten unsere Jungs die Miliz, schossen Hunde ab, halfen Plünderer festnehmen und so weiter und so fort. Die zweite Einberufung hatte schon eine ernstere Aufgabe zu erfüllen: Sie warfen den Brennstoff mit Spaten herunter. Dann wurde der Brennstoff in Container geladen, und vom Boden wurde eine 20 cm dicke Schicht mit Spaten abgeschält, weil die ganze Gerätetechnik einfach versagte und kaputt ging. Und so kam man in der damaligen Sowjetunion auf die Idee, die „Bioroboter“ einzusetzen, das heißt die Menschen, die mit eigenen Händen…

W.N.: Oh du meine Güte…

N.B.: …die Bodenschicht abschälten und übrige Sachen machten. Zur  gleichen Zeit schälte man irgendwo abseits jener Stelle mit großer Technik eine Schicht Asphalt ab. Dann wurden die Anfahrten komplett gewechselt. Niemand benutzte also diese Straßen. Sie wurden begraben und irgendwohin abtransportiert. Also, es gab verschiedene Möglichkeiten, doch davon kann ich nicht besonders viel sagen, denn ich war schon damals nicht dabei. Aber heute weiß ich, dass es solche Maßnahmen gab und neue Straßen und neue Anfahrten angelegt wurden. Als wir wieder nach drüben kamen, konnten wir die Gegend kaum erkennen, weil…

W.N.: …alles anders war.

N.B.: Na ja, wir wussten, wie es ursprünglich war. Aber andererseits merkten wir uns die ganze Landschaft nicht. Wir hatten doch kein Interesse, uns die Gegend zu merken. Uns wurden bestimmte Aufgaben gestellt, und wir erfüllten sie. In diesem System lebten wir… Ich kann nicht sagen, dass wir existierten, aber dass wir uns bemühten, in diesen Bedingungen zu überleben, steht allerdings fest. So war es im Prinzip.

W.N.: Heute – genauer gesagt, in den letzten Jahren – liegen die Exkursionen nach Prypjat und Tschernobyl im Trend. Würden Sie diese Orte als Tourist besuchen?

N.B.: Nein, natürlich nicht. Um Gottes Willen, wozu bräuchte ich das? Es genügt mir, dass ich ziemlich viel davon im Fernsehen sehe. Das ist eine reine Geldwäsche. Eine reine Politikasterei ist das! Eine Gruppe Leute, die null und nichtig sind, versuchen, auf solche Weise Kohle zu verdienen. Wohin dieses Geld weitergeht, weiß aber niemand! Sie verstehen doch selber… Angenommen sitzen Sie in einem Bus mit üblichen Fensterscheiben. Na ja, Sie dürfen nicht aussteigen, doch ein Mann, ein Exkursionsleiter, steigt aus und zeigt Ihnen, dass die Strahlungswerte an manchen Stellen immer noch sehr hoch sind. Glauben Sie, dass Sie davon nichts bekommen werden? Die Radioaktivität dringt doch durch den Busbeschlag durch! Glauben Sie etwa, dass das Glas Sie vor Strahlung retten kann?.. Die meisten Leute sind doch so naiv! Es gibt Menschen, die Geld wie Heu haben und nach neuen Adrenalinquellen immer suchen. Weiß ich nicht. Was mich angeht, ist mir nie eingefallen, so eine Exkursion zu machen. Daran gibt’s nichts Nettes. Es genügt uns das, was wir dort schon mal erlebt haben.

W.N.: Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

N.B.:  Nein, was kann ich noch hinzufügen?…

W.N.: Würden Sie vielleicht ein paar Worte extra an die jüngere Generation richten?

N.B.: Für die jüngeren Generationen, für die jüngeren Menschen, als auch die Vertreter unserer Generation möchte ich betonen, auf die Gesundheit aufzupassen, vieles zu analysieren und nicht von einem Abenteuer ins andere zu stolpern. Sehen Sie… In Europa kann man es kaum verstehen, wie jemand sein Leben für die Leben anderer Menschen opfern kann. Und wir… wir können ruhig und lächelnd unsere Gesundheit verpfänden, unser Leben für die Leben anderer Menschen opfern, ohne was zu bereuen. Lassen wir uns einander gut verstehen und unsere Mitmenschen schätzen, und es wird dann alles in Ordnung sein. Wenn es keine Werte, kein Selbstwertgefühl, keine Selbstbestätigung gibt, wenn wir nur für uns selbst, nur für unsere Verwandten und Nachbarn sorgen und nicht für alle Menschen, die uns umgeben, wenn wir uns um einander nicht kümmern, sind unsere Leben null wert! Vielleicht könnte man das etwas poetischer sagen…

W.N.: Aber Sie haben das ehrlich gesagt.

N.B.: Tja, ganz einfach und ungekünstelt, und so sei es.

W.N.: Gut, danke!


[1] In der Sowjetunion bestand für die meisten männlichen Staatsbürger die Wehrpflicht. Die Dienstzeit betrug für Soldaten und Unteroffiziere normalerweise zwei Jahre.
[2] Der Generalsekretär von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) war bis 1990 nicht nur Chef der leitenden Partei, sondern auch das Staatsoberhaupt.
[3] Michail Gorbatschow war von 1985 bis 1990 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und von 1990 bis 1991 der erste und zugleich der letzte Staatspräsident der Sowjetunion.
[4] Der KGB (das Komitee für Staatssicherheit) war der für die staatliche Sicherheit zuständige Geheimdienst der Sowjetunion.
[5] Viele Militärangehörige waren im Zeitraum von 1979 bis 1989 beim militärischen Eingreifen der Sowjetunion in Afganistan eingesetzt.
[6] Die Regierungspartei der Sowjetunion (und gleichzeitig die einzige Partei), die die ideologischen Seiten des Lebens bestimmte.
[7] Mitglieder der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
[8] Für die sowjetischen Staatsbürger war es eine große Ehre, Mitglied der Kommunistischen Partei zu sein. Das zog auch einen wesentliche sozialen Verantwortungsgrad mit sich.
[9] Eine der größten Auszeichnungen zur Zeit der Sowjetunion.
[10] So wird in den Ländern des postsowjetischen Raums das Periodensystem genannt.
[11] ab Mai 2016 – Dnipro.
[12] Ein bekannter Spruch Josef Stalins.
[13] (rus., ukr.) Brandglocke.
[14] großer Ukrainischer Fernsehsender.
[15] Konstantin Stognij ist bekannter ukrainischer Journalist und Moderator.